Leinefelde nimmt Abschied: Das „Haus der Dienste“ (Teil 2)
In den nächsten Wochen wird der Gebäudekomplex des einstigen Versorgungszentrums am Zentralen Platz mit der HO-Kaufhalle „Blaues Wunder“, dem „Haus der Dienste“, dem Friseur- und Kosmetiksalon der PGH „Moderne Linie“ sowie der Stadtbibliothek abgerissen. Für die Einen verschwindet damit ein jahrelanger Schandfleck, für die Anderen ein halbes Jahrhundert Wirtschaftsgeschichte des Eichsfelds. Dr. Michael Kruppe hat umfangreich recherchiert und interessante Einzelheiten zusammengetragen:
Der Fall der Mauer am 9. November 1989 führte auch im heimischen Dienstleistungssektor
zu gewaltigen Umbrüchen. Durch das Treuhandgesetz vom 1. März 1990 gingen der VEB
Dienstleistungsbetrieb Worbis und seine Immobilien in den Besitz der neuen Treuhandanstalt
über. Innerhalb des Leinefelder Versorgungszentrums am Zentralen Platz betraf dies das
„Haus der Dienste“ und das dazu gehörige Gebäude. Entgegen der Vorgabe des Treuhand-
Chefs Detlev Karsten Rohwedder, „Sanieren geht vor privatisieren!“, wurde der VEB
Dienstleistungsbetrieb Worbis nur wenige Monate später zerschlagen und die einzelnen
Dienstleistungssparten privatisiert.
Am 1. Juli 1990 erfolgte die Gründung der „HERFAG Elektrotechnik GmbH“. Die
Einzelbuchstaben im Namen „HERFAG“ stehen für Haushaltsgeräte, Elektrotechnik, Radio,
Fernsehen, Antennenbau und Gasgeräte. Die Firma war aus den ehemaligen
Reparaturannahmestellen in Leinefelde, Dingelstädt und Worbis hervorgegangen und hatte
deren Räumlichkeiten von der Treuhand übernommen. Diese wurden nun modern eingerichtet
und präsentierten den Kunden ein breites Angebot namhafter Markenhersteller.
Die Nachfrage der ostdeutschen Konsumenten nach Haushalts- und Unterhaltungselektronik
aus dem „Westen“ war zu Beginn der 1990er Jahre so groß, dass sie dem Einzelhandel ein
„goldenes“ Jahrzehnt bescherte. Bereits 1993 eröffnete die HERFAG Elektrotechnik GmbH
in Nordhausen einen Elektromarkt mit 650 Quadratmetern Verkaufsfläche. 1994 kam ein
weiteres Geschäft in Mühlhausen mit 450 Quadratmetern Verkaufsfläche hinzu. In Leinefelde
wurden die Verkaufsräume im ehemaligen „Haus der Dienste“ bereits zu dieser Zeit zu klein,
so dass man sich nach einem neuen Standort umschauen musste.
Im Frühjahr 1996 beschloss der Leinefelder Stadtrat den Bebauungsplan „Bahnhofspassage“;
mit der heutigen Bahnhofspassage gegenüber vom Rathaus Wasserturm hatte diese jedoch
nichts gemein. Dr. Werner Pfeifer, ein Investor aus Hamburg, der in Vollenborn bei
Niederorschel geboren wurde, wollte mit seiner Firma „Objekt-Entwicklung. Gesellschaft für
Grundstücksentwicklung m.b.H.“ auf dem Gelände des damaligen Busbahnhofs (heute
Kaufland) einen modernen Gebäudekomplex für Geschäfts- und Verwaltungsräume schaffen.
Die HERFAG Elektrotechnik GmbH und die Leinefelder Stadtverwaltung sollten
ursprünglich dort einziehen; doch es kam ganz anders.
Im Mai 1996 mietete die Stadt den Wasserturm als neuen Sitz ihrer Verwaltung an und zog im Juli 1997 dort ein. Im Frühjahr 1998 verstarb Dr. Pfeifer unerwartet. Ein Investor aus Nürnberg, der die 11.000 Quadratmeter großen Baugrundstücke von Pfeifers Firma erworben hatte, trat Ende des Jahres 1998 vom Kaufvertrag zurück. Axel Pfeifer, der neue Geschäftsführer der Firma „Objekt-Entwicklung“, nahm zwar die Pläne seines Vaters im Frühjahr 2000 wieder auf, doch auch dieses Vorhaben scheiterte. Im Dezember 2003 begann schließlich der Kaufland-Konzern mit dem Bau des heutigen Marktes.
Die HERFAG Elektrotechnik GmbH hatte unterdessen einen anderen Standort gefunden und
zwar auf dem Gelände der ehemaligen Borstenzurichterei neben dem neuen Busbahnhof. Im
März 2002 erfuhr die Öffentlichkeit von dem Bauvorhaben. Nach der Grundsteinlegung am 30. August 2002 konnte der neue HERFAG-Markt mit 1.200 Quadratmetern Verkaufsfläche
am 10. April 2003 feierlich eröffnet werden. Der alte Standort im ehemaligen „Haus der
Dienste“ wurde aufgegeben und ein Lampenlagerverkauf zog dort ein. Dieses Geschäft
existierte jedoch nur wenige Jahre und nach dessen Auszug stand das Gebäude ca. zehn Jahre
leer. 2017 kaufte die Stadt Leinefelde-Worbis die Immobilie, um sie abzureißen und dort ein
Medizinisches Versorgungszentrum zu errichten. Nachdem diese Pläne jedoch gescheitert
waren, kann nun zumindest der Abriss erfolgen. Damit verschwindet für die Einen ein
jahrelanger Schandfleck und für die Anderen ein halbes Jahrhundert Wirtschaftsgeschichte
des Eichsfelds.
Dr. Michael Kruppe