Die wechselvolle Geschichte des „Stadt L“ – ein Beitrag in zwei Teilen von Michael Kruppe

So präsentiert sich heute die einst so beliebte Gaststätte in Leinefelde. Foto: Michael Kruppe


Leinefelde. Die Gaststätte „Stadt Leinefelde“ war zusammen mit der Mehrzwecksporthalle (heute Obereichsfeldhalle), dem „Haus der Dienste“ und der HO-Kaufhalle „Blaues Wunder“ Teil des so genannten „Versorgungskomplexes Leinefelde“, welcher ab 1971 vom VEB Bau- und Montagekombinat Erfurt, dem VE Landbaukombinat Erfurt und vielen Handwerksbetrieben stufenweise realisiert wurde. Die erste Bauphase erfolgte zwischen 1971 und 1972 mit der Errichtung der HO-Kaufhalle „Blaues Wunder“.

Der Eingang zur Gaststätte Stadt Leinefelde und in die damalige Stadthalle (heute Obereichsfeldhalle). An der Stirnseite rechts vom Gebäude befand sich der Eingang zur Bar im Untergeschoss. Foto: Archiv Michael Kruppe

Dazu wurden Kosten in Höhe von 1,6 Mio. Mark veranschlagt. Ende Juli 1972 fand unter großem Andrang der Bevölkerung die feierliche Eröffnung statt. Anfang August 1973 konnte mit der Übergabe vom „Haus der Dienste“ die zweite Bauphase vollendet werden. In dem Objekt bot der VEB Dienstleistungsbetrieb Worbis 19 verschiedene Dienstleistungsarten an. Sie reichten von Textilreparaturen, über Lederreparaturen, Schleifarbeiten, Reparaturen von Waschmaschinen, Fernsehern und Uhren bis zu einer chemischen Textilreinigung.

Zu den Fotos: Die Bilder stammen aus der damaligen Zeitung Das Volk vom 2. April 1974, 25. September 1974 und 19. September 1975. Repro: Michael Kruppe

Die dritte Bauphase war die Errichtung vom so genannten „Komplex Wohngebietsgaststätte und Mehrzwecksporthalle“; sie begann im letzten Quartal des Jahres 1973. Ihre Ausführung oblag dem Oberbauleiter Herbert Riethmüller vom VEB Bau- und Montagekombinat Erfurt, Betreibsteil Leinefelde. Als Fertigstellungstermin für die Gaststätte hatten die SED-Kreis- und -Bezirksleitung den 25. Jahrestag der Republik (7. Oktober 1974) festgelegt und bereits am Freitag, den 15. März 1974, wurde Richtfest gefeiert. Die neue Wohngebietsgaststätte sollte aus zwei großen Räumen bestehen, in denen bis zu 400 Personen Platz finden konnten. Außerdem sollten täglich bis zu 1.200 Portionen Essen zubereitet werden.


Am Donnerstag, dem 3. Oktober 1974, wurden die Wohngebietsgaststätte sowie ein angrenzender Parkplatz auf dem Innenhof termingerecht übergeben. Die Gesamtkosten für den Bau der Gaststätte betrugen 5,2 Mio. Mark. Davon entfielen 3,7 Mio. Mark auf den HO Kreisbetrieb Worbis und 1,5 Mio. Mark auf den VEB Eichsfelder Zementwerke Deuna.

Am Dienstag, dem 8. Oktober 1974, berichtete die Tageszeitung „Das Volk“ in ihrem Kreisteil Worbis unter der Überschrift „Neue Wohngebietsgaststätte „Stadt Leinefelde“ übergeben“ über das Ereignis. Darin heißt es:
„Am Donnerstag wurde mit der symbolischen Schlüsselübergabe für die Wohngebietsgaststätte „Stadt Leinefelde“ durch den Oberbauleiter des BMK, den „Helden der Arbeit“ Genossen Herbert Riethmüller, eine wichtige Etappe beim Bau des Versorgungskomplexes in der neuen Leinefelde Wohnstadt abgeschlossen. Die Tanzbar und angrenzende Mehrzwecksporthalle werden in wenigen Monaten eröffnet. Durch die weiteren zunächst 330 Plätze erhöhen sich Kapazität und Niveau der gastronomischen Versorgung beträchtlich. Zugleich tritt eine wesentliche Verbesserung der Schulspeisung für zusätzlich 400 Kinder ein. Die Bauleiter und Handwerker, die die neue Gaststätte in der Rekordzeit von knapp einem Jahr fertigten, konnten bei der Einweihung auch die Mitglieder des Sekretariats der Kreisleitung der SED Werner Rottke, 1. Sekretär, Egon Stieler, Sekretär der Kreisleitung, Wolfgang Hammer, Vorsitzender des Rates des Kreises, und Walter Thiel, Vorsitzender der Kreisplankommission, zu ihren Gästen zählen. Für große Leistungen im Wettbewerb, die viel zur vorfristigen Übergabe des Objekts beitrugen, wurden in der Feierstunde die Kollektive Hoffmann, Klingebiel, Wenzel, Albrecht, Klein sowie Stitz prämiert und die Kollegen Werner Müller, Herbert Vogt, Günter Fütterer, Alois Möhl, Hermann Hentrich, Michael Schmäring und Josef Rhöse als „Aktivisten der sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet.“


Am Montag, dem 3. März 1975, übergab der Leinefelder Bürgermeister Jürgen Kawohl die seit Dezember 1973 im Bau befindliche Mehrzwecksporthalle ihrer Bestimmung. Damit war der Versorgungskomplex jedoch noch nicht ganz fertig. Auf der Freifläche zwischen dem Gaststättengebäude und der gegenüber liegenden Clara-Zetkin-Straße entstand seit Oktober 1974 ein großer Parkplatz für 55 PKW, der im September 1975 freigegeben wurde.

Auch in der Bezirkshauptstadt Erfurt nahm man von den Entwicklungen in Leinefelde Kenntnis. Bereits im Juni desselben Jahres wurde die Brigade Leinefelde vom VE Landbaukombinat Erfurt mit dem Architekturpreis 1975 des Bezirks Erfurt für ihre Projekte „Baumwollspinnerei TV 2 Leinefelde“ und „Versorgungskomplex Leinefelde“ ausgezeichnet. In der letzten Septemberwoche des Jahres 1975 erhielt dieselbe Brigade für ihr Projekt „Versorgungskomplex Leinefelde“ sogar den 2. Preis im Architekturwettbewerb 1975 der DDR zugesprochen. Damit hatte sich die junge Stadt an der Leine auch architektonisch einen großen Namen gemacht.

Da die offizielle Bezeichnung Wohngebietsgaststätte „Stadt Leinefelde“ vielen Arbeitern und Bürgern zu umständlich war, etablierte sich im Volksmund schon nach kurzer Zeit der Name „Stadt L.“, welcher bis heute gebräuchlich ist. Geleitet wurde das Haus die ganze Zeit über von Wolfgang Kaufmann. Die neue Gaststätte hatte zunächst die Aufgabe, die Versorgung von tausenden Bauarbeitern zu sichern, welche in Leinefelde und Deuna den so genannten „Eichsfeldplan“ verwirklichten. Erst danach sollten die Bedürfnisse der umliegenden
Wohnbevölkerung und der Schüler befriedigt werden.

Eine weitere Aufgabe vom „Stadt L.“ lag in der Ausbildung von Fachpersonal für den gastronomischen Bereich. Köche, Kellner, Eisverkäufer, Barkeeper und Reinigungskräfte machten hier ihre Lehre. Die Oberkellner Manfred Vogt und Klaus Niekler bildeten die Kellnerlehrlinge aus. Da der HO-Kreisbetrieb Worbis nicht über genug Fachkräfte für den gastronomischen Bereich verfügte, mussten manche Mitarbeiter und Auszubildende vom „Stadt L.“ auch in der gegenüber liegenden Betriebskantine des VEB Baumwollspinnerei und –Zwirnerei Leinefelde Dienst tun. Für die Betreffenden bedeutete das ständige Hin- und Herpendeln zusätzlichen Stress, an den sie sich noch heute schmerzlich erinnern.

Ausschnitt aus einer Ansichtskarte aus dem Jahr 1983 vom Stadt L. (Archiv Michael Kruppe)

Seit der Fertigstellung stiegen die Sitzplatz-Kapazitäten vom „Stadt L.“ kontinuierlich von 330 auf 380 an. Davon entfielen auf die Gaststätte 220, auf das Eiscafé 60, auf einen Clubraum 30 und auf die Nachttanzbar 70 Plätze. Damit war das „Stadt L.“ neben der Konsum-Waldklause „Köhlersgrund“ das beliebteste Ausflugslokal von Leinefelde und avancierte ebenfalls zum Postkartenmotiv.

Auch der Eisverkauf im Freien zog große Menschenmassen an; im Sommer 1984 musste zusätzlich noch ein Terrassencafé vor der Gaststätte in Betrieb genommen werden, um die enorme Nachfrage zu befriedigen. Rund 41 Tonnen Eis und Streicheis wurden pro Jahr selbst produziert. Das entsprach nach eigenen Angaben ungefähr 800.000 Kugeln Eis. Bei einer Bevölkerung von rund 16.000 Einwohnern bedeutete dies, dass sich das „Stadt L.“ auch bei auswärtigen Gästen einer hohen Beliebtheit erfreute. Das spiegelte sich auch bei den zahlreichen Auszeichnungen wieder, welche das Lokal und seine Belegschaft im Laufe ihrer 16jährigen Tätigkeit erhalten hatten.

Als einzigem Objekt des Bezirks Erfurt wurde allen Versorgungseinrichtungen der Gaststätte „Stadt L.“ das so genannte „Goldene T“ verliehen. Dabei handelte es sich um eine Auszeichnung der FDJ für vorbildliche Leistungen und Initiativen für Jugendtanz in Gaststätten, Kantinen und Clubhäusern.
Michael Kruppe