v.li. Wolfgang Nolte, Horst Dornieden und die Geschäftsführerin des Grenzlandmuseum, Mira Keune, legten einen Kranz zum Gedenken an die Opfer des 17. Juni 1953 nieder. Foto: Ilka Kühn

Teistungen. Am 17. Juni 1953 gehen im Osten Deutschlands über eine Millionen Menschen auf die Straße: Ein Volksaufstand, der die gesamte DDR erfasst. Einzig das Eingreifen sowjetischer Panzer sichert an diesem Tag die kommunistische Diktatur in der DDR. Ein wichtiges Datum der deutschen Demokratiegeschichte, an das wir als Trägerverein des Grenzlandmuseum Eichsfeld erinnern. Es führt uns gleichzeitig die Macht und Ohnmacht der Menschen vor Augen. – Mit diesen Worten begann der Vorsitzende des Vereins Grenzlandmuseum seine Gedenkrede zum Volksaufstand am 17. Juni 1953, der sich gestern zum 70. Mal jährte.

Zum Mahnmal des Grenzlandmuseums waren einige Vereinsmitglieder, Kommunalpolitiker, Zeitzeugen und Abgeordnete zur Gedenkveranstaltung gekommen. Unter ihnen auch der niedersächsische CDU-Landtagsabgeordnete Christian Frölich und der ehemalige EU-Abgeordnete Rolf Berend.

Der stellvertretende Vorsitzende des Trägervereins, Wolfgang Nolte, betonte, dass er sich freue, dass mit der Gedenkveranstaltung auch der Bogen zur friedlichen Revolution 1989 gespannt wurde. Gemeinsam mit Horst Dornieden legte er am Mahnmal einen Kranz nieder.

Rolf Berend erinnert an eine Zeit, als er 1990 als Abgeordneter der ersten freigewählten Volkskammer der DDR im Gewandhaus am Gendarmenmarkt in Berlin bei der großen Festveranstaltung zum 17. Juni mit Helmut Kohl u.v.a. teilnahm. Hier habe man als Gesamtdeutschland erstmals diesen Tag gefeiert, der in der BRD immer Feiertag war und in der DDR nur ein billiger Arbeitstag, sagte Berend. Er verwies auch auf die anderen Aufstände in den Ost-Staaten. Während der Niederlegung des Kranzes stimmte er die Nationalhymne an.

Wie wichtig es sei, die Erinnerungen und Erkenntnisse an die Kinder weiterzugeben, gerade in einer Zeit, wo der Extremismus auf rechter und linker Seite neuen Zulauf erfährt, wo rechtsextreme Parteien beängstigenden Zuspruch erfahren, betonte in seiner Rede der CDU-Landtagsabgeordnete Christian Frölich. Es sei eine der größten Aufgaben, die Demokratie zu stärken und die Freiheit des Einzelnen zu schützen. Nur einen Steinwurf entfernt wurden 1952 Menschen von der SED als Ungeziefer bezeichnet und zwangsausgesiedelt aus Grenzgebieten.

Über dieses und weitere Themen zur “Aktion Grenze” haben Schülerinnen und Schüler aus drei verschiedenen Schulen im Grenzbereich Thüringen/Niedersachsen an einem beispielhaften Projekt zum Bundesprogramm „Jugend erinnert“ gearbeitet, aus dem gestern Projekteilnehmer aus Worbis ihre Ergebnisse den Gästen der Gedenkveranstaltung vorstellten. Ein sehr beeindruckendes Projekt, das seinen Weg in den Geschichtsunterricht an den Schulen finden sollte. (Wir werden es in den eichsfeldnachrichten.de noch im Detail vorstellen.)

Ilka Kühn

Wie war das am 17. Juni 1953 – vor genau 70 Jahren?

Aus der Rede von Horst Dornieden: „Vor 70 Jahren rumorte es in der DDR, nicht erst am 17. Juni und nicht erst mit den Berliner Bauarbeitern, die zum Generalstreik aufriefen, dem sich im Laufe der darauffolgenden Stunden in mehr als 700 Orten in der DDR mehr als eine Millionen Menschen angeschlossen hatten, u.a. mit Arbeitsniederlegungen, Streiks, Demonstrationen, Besetzung von Rathäusern und vielem mehr.

Der Volksaufstand begann auf dem Land, stellte Horst Dornieden klar. Und weiter:

„Schon Tage vorher beginnt es und es beginnt auf dem Land. Vor kurzem hatten wir zu dieser kaum präsenten Facette des Volksaufstands den Berliner Historiker Dr. Jens Schöne zu Gast, der seine neueste Publikation mit dem Titel „Jenseits der Städte – Der Volksaufstand von 1953“ vorstellte.Er schilderte eindrücklich, dass es rumorte, weil die Führung der DDR rücksichtslos und mit aller Härte versuchte, die DDR zur kommunistischen Diktatur umzustrukturieren.

Dass diese Unruhen auf dem Land beginnen, ist leider kaum bekannt. Dabei war fast niemand in der DDR so stark von den brutalen Umstrukturierungen betroffen wie die Landgemeinden und ihre Bevölkerung.

Bereits seit 1945 setzten die Kommunistische Partei und dann die SED alles daran, die
ländlichen Wirtschafts- und Sozialstrukturen und ganz allgemein traditionelle Strukturen mit
aller Härte, und auch mit viel Unkenntnis, zu verändern und zu zerstören. Vor allem die radikale Agrarpolitik führte zu einer zunehmenden Landflucht und später zur Flucht vieler Großbauern und Bauern. Daraus folgte eine schlechte Versorgungslage im ganzen Land. Der SED war klar, dass sie zur Sicherstellung der Versorgung die Landwirtschaft und die Dorfbewohner „in den Griff“ bekommen mussten.

Eine Gelegenheit bot sich 1952. Aus Moskau kam die Anweisung dazu. Zunächst ging es um das Thema, mit dem wir uns hier an dieser Stelle beschäftigen: die Grenzabriegelung, die im Mai 1952vollzogen wurde, verbunden mit der Einführung der Sperrzone und den Zwangsaussiedlungen. Mehr als 8.000 Menschen verloren ihre Heimat dabei. U.a. meine Großeltern.

Zusammengefasst: Abriegelung, Kontrolle und Repression, um die innerdeutsche Grenze
abzuriegeln, die Menschen in Grenznähe einzuschüchtern und, um in der Folge die weiteren
Umstrukturierungen in der gesamten DDR vornehmen zu können. Entsprechend wurde als nächstes von Moskau der weitere „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ angeordnet, der im Juli 1952 von der SED verkündet wurde.
Dessen Umsetzung führt jedoch zu weiteren schweren Ernährungskrisen, zum Absinken des Lebensstandards und zum Rückgang der industriellen Produktion. Viele Menschen flüchten
in den Westen. Die tief greifende wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Krise der
DDR war unübersehbar, auch in Moskau.

Für die Landwirtschaft bedeutete das Vorgehen der SED, dass zur kollektiven Produktion
übergegangen werden musste. Alle Privatbetriebe sollten beseitigt werden und in LPGs
überführt werden. Sie müssen sich vorstellen: allein auf Grundlage einer einzigen Verordnung vom März 1953 wurden innerhalb von fünf Wochen mehr als 6.500 Bauern von ihren Höfen vertrieben. Mehr als 6.500 Bauern!

Das harte Agieren führte zu den rasant steigenden Zahlen an Flüchtlingen. Die in Duderstadt beheimatete „Südhannoversche Volkszeitung“ berichtet mit Beginn des Jahres 1953 fast wöchentlich vom Strom der Flüchtlinge aus der DDR, vor allem der Bauern. Die Versorgungslage blieb schlecht, aber auch die Zahl der Mitglieder der LPGs entwickelte sich nicht so wie geplant. Lediglich 39.000 Personen waren bis Ende 1952 in eine LPG eingetreten, 39.000 von 1,6 Millionen Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft. Eine gescheiterte Politik auf allen Ebenen.

Nach dem Stalin im März 1953 gestorben war, reagiert man in Moskau auf die Situation in
der DDR und fordert von der SED-Führung die Rücknahme der Maßnahmen, vor allem der
Kollektivierung der Landwirtschaft – noch für Ende Mai. Aber die deutschen Kommunisten widersetzen sich den Anweisungen und machten mit aller Härte weiter, sowohl gegen die Bauern als auch gegen die Arbeiter und viele weitere Bevölkerungsgruppen. Im Mai wird die Erhöhung der Arbeitsnormen um 10,3 Prozent beschlossen, während die Löhne gleich bleiben. Einer der Gründe für das Auslösen der Streiks in Berlin und weiteren Städten.

Anfang Juni wird die SED-Spitze um Walter Ulbricht nach Moskau einbestellt und zur
Umsetzung einer gemäßigteren Politik gezwungen. Daraufhin gab die SED-Führung am 10. Juni 1953 über die DDR-Presse einen „Neuen Kurs“ bekannt. Die eigentlich unfehlbare politische Führung gab erstmals und öffentlich Fehler zu! Der „Neue Kurs“ war vor allem für die Agrarpolitik der SED eine politische Bankrotterklärung und Bestätigung für die unzufriedene Landbevölkerung. Vor diesem Hintergrund wurden nun auf dem Land Forderungen nach Rücknahmen der Maßnahmen laut, die sich in Unruhen und Auseinandersetzungen mit den Machthabern entluden.

In den Dokumenten der Stasi und Volkspolizei werden ab dem 12./13. Juni Vorfälle aus mindestens 302 Dörfern überliefert. Fahnen werden verbrannt, Bürgermeister verprügelt und neue Gemeindemitglieder gewählt. Verhasste Funktionäre müssen in Jauchegruben springen oder unter Hohngelächter der Dorfbewohner Stalin-Bilder die Straße entlang tragen. In Mühlhausen gab es einen Sternmarsch von Bauern ins Zentrum der Stadt. Das Ausmaß widerständigen Verhaltens wurde bis zum 17. Juni immer größer. Es kam zu Arbeitsniederlegungen und der Auflösung von LPG. Das bedeutet, dass in diesen Tagen die Führung der DDR offen in Frage gestellt wurde, Amtspersonen wurden symbolisch entmachtet. Was für ein Mut!

Nachdem die Informationen vom Generalstreik der Arbeiter in Berlin am 16./17. Juni überall
in der DDR bekannt wurden, fanden in vielen Orten Siegesfeiern statt. Das Ende der SED-
Regimes wurde gefeiert, die bevorstehende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und eine gesamtdeutsche Regierung unter Konrad Adenauer. Ein Beispiel haben wir dafür im Eichsfeld in Großbartloff. Dort wurde der Volkspolizist in der Dorfkneipe entmachtet, die Bilder von Staatsmännern wie Pieck und Grotewohl wurden symbolisch an Bäume gehängt.

Doch es kam anders. Stattdessen des Ende des Regimes kamen die sowjetischen Panzer. Sie
waren es, die diesen ersten Volksaufstand in den kommunistischen Diktaturen beendeten. Das Kriegsrecht wurde verhängt, mehr als 10.000 Menschen wurden verhaftet, 50 Menschen starben. Die Sowjetischen Panzer kamen in die Städte, Berlin, Leipzig, Jena. Aber auch in den kleineren Orten kamen Rotarmisten und sorgten dafür, dass die Unruhen und Aufstände beendet wurden.

In Großbartloff wurde einer der Beteiligten verhaftet. Jemand hatte ihn angezeigt. Es gab große Angst im Ort, dass weitere Verhaftungen folgen würden und ein paar Beteiligte versteckten sich über zwei Wochen. Der Mut der Menschen, vor allem auf dem Land, ließ dennoch nicht nach. Noch bis Ende 1953 kam es immer wieder zu Übergriffen gegen SED-Kader, ortsfremde Funktionäre wurden von Höfen geprügelt, es kam zu Bauernversammlungen, auf denen die Vereinigung Deutschlands und die Einführung der Markwirtschaft verlangt wurde. So zeigen es Dokumente von Stasi, Volkspolizei und SED. In der Folge des Volksaufstands kam zur Auflösung von mehr als 400 LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften).

Erst mit „bewährten“ Mitteln der Einschüchterung bekam die SED im Laufe des Jahres 1954 die Situation in den Griff. Damit haben wir wieder die typische Struktur von Diktatur: Kontrolle, Einschüchterung und Repression. Zum Glück haben sich die Menschen in ihrem Freiheitskampf nicht beirren lassen. Drei Jahre später gingen die Menschen in Polen und Ungarn auf die Straße gegen die kommunistischen Machthaber.

Auch hier beendeten die sowjetischen Panzer die Proteste. 1968 versuchten es die Tschechen und Slowaken mit dem Prager Frühling. Die Panzer des Warschauer Paktes beendeten die Reformversuche. 1980/81 wurde das Kriegsrecht verhängt, als sich in Polen die unabhängige Gewerkschaftsbewegung Solidarnocz gründet. Unser großes Glück ist, dass die Revolutionen von 1989 friedlich verliefen und die
kommunistischen Diktaturen zum Einsturz brachten. Für Deutsche folgte die Deutsche Einheit. Parallel in der Bundesrepublik war der 17. Juni seit 1954 der „Tag der deutschen Einheit. Mein Wunsch und meine Bitte ist es, den Volksaufstand von 1953 nicht nur als wichtige Wegmarke der deutschen Demokratiegeschichte zu verstehen sondern auch der europäischen Demokratiegeschichte.