Informationskarte für Teilnehmer der Erdgastrasse (Foto: VEB Hermann Haack
Geographisch-Kartographische Anstalt Gotha, in Privatbesitz)

Von Michael Kruppe

Am 5. August 2021 zeigt der deutsch-französische Fernsehsender arte die 52minütige Doku „Erdgas für den Klassenfeind. Wie das russische Erdgas in den Westen kam“. Regisseur Matthias Schmidt hatte dazu letztes Jahr ehemalige „Trassniks“ interviewt, die von ihren Erlebnissen berichten. Auch im Eichsfeld finden sich heute noch Trassenbauer, die an der so genannten „Drushba-Trasse“ (1975-1978) und „Erdgastrasse“ (1982-1994) gearbeitet haben. So hießen damals die Bauabschnitte, welche die DDR für die Sowjetunion errichten musste. Michael Kruppe hat nachgeforscht:

Angefangen hatte alles mit dem so genannten „Erdgas-Röhren-Geschäft“ zwischen der
Essener Ruhrgas AG und der sowjetischen Sojusgasexport am 1. Februar 1970. Eine ca. 2750 km lange Pipeline namens „Sojus“ (dt. Union) sollte Westeuropa mit Erdgas aus dem
russischen Orenburg beliefern. Es vergingen vier Jahre, in denen die betreffenden Mitglieder des RGW um jeden Kilometer Bauabschnitt hart verhandelt mussten.

Berlin: Feierliche Verabschiedung der ersten Delegierten zur Drushba-Trasse am
26.3.1975 (Foto: ADN-ZB/Busch, in Privatbesitz)

Im Herbst 1974 brach in der DDR plötzlich das Trassenfieber aus. Der Legende nach soll am 5. Oktober das Politbüro des ZK der SED den Vorschlag gemacht haben, den DDR-Abschnitt der Erdgasleitung „Sojus“ der FDJ als „Zentrales Jugendobjekt“ zu übertragen. Der Zentralrat der FDJ habe daraufhin am 22. Oktober den Vorschlag mit großer Begeisterung angenommen und dem Bauvorhaben den Namen „Drushba-Trasse“ gegeben; so die Legende. „Drushba“ ist russisch und bedeutet übersetzt „Freundschaft“; ein Wort, dass in der DDR schon zu diesem Zeitpunkt niemand mehr hören kann.

Ukraine: Vorbereitung des letzten Arbeitsgangs Reinigen-Isolieren-Versenken (RIV)
an der Drusba-Trasse (Foto: unbekannt, in Privatbesitz)

Bereits nach wenigen Wochen rollt eine gewaltige Werbe- und Propagandaflut an, welche die gesamte DDR für die nächsten Jahre erfassen soll. Auch in den Kreisen Worbis und
Heiligenstadt macht das Wort „Trasse“ die Runde. In Schulen und Betrieben sowie in fast
allen FDJ-Einrichtungen, im Rundfunk, in Tageszeitungen, Zeitschriften, Wandzeitungen und Flugblättern wird für das „Zentrale Jugendobjekt“ geworben.

Für 60 bis 70 Berufe (Gewerke) werden tausende Arbeitskräfte gesucht. Besonders dringend ist der Bedarf an Forst-, Bau- und Transportarbeitern, Rohrlegern, Schweißern, Kranführern und Maschinenschlossern. Darüber hinaus werden Bauzeichner, Vermesser, Handwerker, Eisenbahner, Elektriker, Lageristen, aber auch Köche, Verwaltungspersonal und Kulturarbeiter benötigt.

Ukraine: Für den Bau der Drushba-Trasse müssen gewaltige Erdmassen bewegt
werden (Foto: Günter Thau)

Auf Grund der hohen Industriedichte im Eichsfeld, dem ständigen Zuzug junger Arbeitskräfte sowie der hohen Konzentration von Bau- und Montagebetrieben sind die beiden Kreise Worbis und Heiligenstadt bis zum Untergang der DDR eine ideale Rekrutierungsstätte für zukünftige Trassenbauer.

Ukraine: Neben der Erdgasleitung muss die DDR auch mehrere Hundert Wohnungen
vom Typ WBS70 bauen (Foto: unbekannt, in Privatbesitz)

Diese kommen aus den Betrieben VEB Straßen- und Tiefbaukombinat Erfurt, Betriebsteil Leinefelde; VEB Bau- und Montagekombinat Erfurt, Betriebsteil Leinefelde; VEB Kraftverkehrskombinat Erfurt, Betriebsteil Heiligenstadt; VEB Baumwollspinnerei und Zwirnerei Leinefelde; VEB Milchhof Leinefelde; VEB Eichsfelder Zementwerke Deuna, VEB Kaliwerk „Thomas Müntzer“ Bischofferode und anderen. Wie viele Personen es insgesamt sind, welche in die Sowjetunion gehen, ist bis heute unbekannt.

 

Ukraine: Der Arbeitsalltag an der Trasse ist geprägt von Schlamm und Dreck.
Schlammtiefen von 50-75 cm sind normal (Foto: Günter Thau)

Das liegt u.a. daran, da neben den eigentlichen Bauleuten und dem Begleitpersonal auch
Personen beruflich an der Trasse tätig waren, die sich nur kurz dort aufgehalten haben. Dazu zählen z.B. Betriebsangehörige, Studentenbrigaden, Fotografen, Reporter, Filmemacher, Kulturgruppen, Solokünstler und Musikbands. Vorsichtig geschätzt dürfte sich die Zahl der Eichsfelder Trassenbauer in der Sowjetunion im hohen zweistelligen Bereich bewegen.

Ukraine: In ihren Wohnlagern leben die Trassenbauer auf engstem Raum zusammen
(Foto: Günter Thau)

Die Kreise Worbis und Heiligenstadt entsenden nicht nur Arbeitskräfte, sondern produzieren auch für die Trasse. Pünktlich zum Baubeginn an der Drushba-Trasse wird 1975 in Deuna das neu errichtete Zementwerk in Betrieb genommen und der erste von vier Großdrehöfen gezündet. Zusammen mit den Werken in Rüdersdorf, Karsdorf, Bernburg und Nienburg werden die Deunaer Kumpel von nun an auch Zement für die Sowjetunion herstellen. Zwar hat die UdSSR eigene Zementwerke, aber die Baustoffe benötigen die Sowjets für ihre Vorhaben selbst. Außerdem besitzt der Deunaer Zement eine viel bessere Qualität.

Ukraine: Das Diskomobil versorgt an der Drushba-Trasse die einzelnen Baustellen
mit Musik (Foto: unbekannt, in Privatbesitz)

So kommt es, dass fast alles, was die DDR zum Bau ihrer Abschnitte benötigt, von Deutschland aus in die Sowjetunion exportiert werden muss. Dazu gehören u.a. auch die Metallerzeugnisse aus dem VEB Schraubenwerk Tambach, Betriebsteil Heiligenstadt sowie die blauen FDJ-Hemden aus dem VEB Eichsfelder Bekleidungswerke in Heiligenstadt. Da es sich um ein Zentrales Jugendobjekt der FDJ handelt, sind die blauen Hemden bei offiziellen Anlässen Pflicht.

Russland 1982/83: Bau der Verdichterstation in Perwomaiskij südlich von Moskau
(Foto: Eberhardt Uhlig)

Nicht jeder, der will, darf an die Trasse. Das Bewerbungsverfahren dauert mehrere Monate und setzt vom Bewerber neben der beruflichen Qualifikation sowie dem Bestehen der medizinischen Trassentauglichkeitsuntersuchung auch die so genannte „politische
Zuverlässigkeit“ voraus. Darunter versteht man konkret das Bekenntnis zur sozialistischen
Gesellschaft, den „Ehrendienst“ in der NVA oder den Grenztruppen, das Bekenntnis zur
Freundschaft mit der Sowjetunion sowie zum alleinigen Herrschaftsanspruch der SED als „Partei der Arbeiterklasse“.

Seite 1 und 3 der Urkunde für die 3-jährige Teilnahme an der Erdgastrasse (Foto:
Michael Kruppe)

Der Bewerber muss nicht zwingend Mitglied der FDJ, SED oder der „Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft“ (DSF) sein, um an die Trasse zu kommen, denn die Trassenbauer sind handverlesene Leute. Eine Sicherheitsüberprüfung durch die Volkspolizei und das Ministerium für Staatssicherheit filtert diejenigen Bewerber heraus, welche in Opposition zum Staat stehen könnten oder bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Der Betrieb bzw. der Vorgesetzte müssen sich außerdem dafür verbürgen, dass der Bewerber die zu erwartende hohe Arbeitsnorm schafft. Tun sie dies nicht,
erfolgt eine Ablehnung.

Verantwortlich für die Rekrutierung der Arbeitskräfte und deren Einsatz an der Trasse sind die jeweiligen Kreis- und Bezirksleitungen der FDJ unter dem Dach des FDJ-Zentralrates in Berlin. Um die Trassenbauer aus dem Eichsfeld kümmern sich die FDJ-Kreisleitungen in Worbis und Heiligenstadt sowie die FDJ-Bezirksleitung in Erfurt.

Wer wissen will, was rund 25.000 junge Männer und Frauen aus der DDR dazu bewogen hat, seit 1975 unter extremsten Bedingungen Erdgasleitungen, Wohnungen, Schulen, Kindergärten und Straßen in der Sowjetunion zu bauen, sollte sich die Doku „Erdgas für den Klassenfeind. Wie das russische Erdgas in den Westen kam“ am 5.8.2021 auf arte anschauen.

Michael Kruppe