Dr. Michael Kruppe betrachtet heute in seinem Beitrag die Geschichte der Erfurter Bahn in Bezug auf Eichsfelder Namen:
Am Samstag, den 18. Januar 2003, wurde ein neues Kapitel in der Geschichte des Eichsfelds
aufgeschlagen. Zahlreiche Gäste aus Politik und Wirtschaft sowie viele Schaulustige hatten
sich an diesem Tag auf dem Leinefelder Bahnhof eingefunden, um gemeinsam die Zugtaufe
dreier Triebwagen zu feiern, welche fortan die Namen unserer Region tragen sollten.
Die Erfurter Bahn (EB), welche bis März 2007 Erfurter Industriebahn (EIB) hieß, gehört seit
ihrer Gründung im Jahre 1912 der Stadt Erfurt. Während der DDR-Zeit blieb das
Unternehmen in kommunaler Trägerschaft, wobei sein Tätigkeitsbereich auf den
Schienengüterverkehr beschränkt war. Erst 1997 stieg die Erfurter Industriebahn in den
Schienenpersonennahverkehr (SPNV) von Thüringen ein. Möglich wurde dies durch die so
genannte „Bahnreform“ von 1994. Als Reaktion auf die „EG-Richtlinie 91/440/EWG zur
Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft“ beschloss die Regierung von
Bundeskanzler Helmut Kohl am 27. Dezember 1993 das „Gesetz zur Neuordnung des
Eisenbahnwesens“.
Dieses bestand aus fünf Artikeln und trat am 1. Januar 1994 in Kraft. Es markierte einen Meilenstein in der Geschichte des deutschen Eisenbahnwesens. Die Deutsche
Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn wurden fusioniert (Artikel 1) und ihr Vermögen in
die neu gegründete Deutsche Bahn AG überführt (Artikel 2). Außerdem schuf man das
Eisenbahnbundesamt als oberste Bundesbehörde für den Schienenverkehr in Deutschland
(Artikel 3).
Von besonderer Tragweite erwies sich Artikel 4: das „Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs“ definierte den ÖPNV als eine Aufgabe der Daseinsvorsorge und zwang den neu entstandenen Monopolisten, die Deutsche Bahn AG, sein Schienennetz mit anderen Anbietern zu teilen. In der Folgezeit gründeten sich viele regionale Eisenbahnunternehmen in Deutschland. Aber auch bereits bestehende Verkehrsunternehmen wie die Erfurter Industriebahn GmbH konnten nun ihren Tätigkeitsbereich erweitern.
Nach der Genehmigung durch das Eisenbahnbundesamt am 10. April 1997 wurde am 15.
September 1997 der erste SPNV-Vertrag zwischen dem Freistaat Thüringen und der Erfurter
Industriebahn GmbH unterzeichnet. Ab dem 24. Mai 1998 fuhren fünf so genannte „RegioShuttle“ zwischen Erfurt und Eichenberg; bis zum Jahresende beförderten sie rund 630.000 Fahrgäste und legten dabei 930.000 Zugkilometer zurück. Der Freistaat förderte die
Triebwagen mit 50 Prozent. Im Mai 1999 erfolgte zum Fahrplanwechsel eine Ausweitung der
Strecke von Erfurt bis nach Kassel; gleichzeitig wurden weitere Züge vom Typ Regio-Shuttle
RS1 angeschafft.
Zur besseren Vermarktung des Bahnunternehmens und des Freistaats Thüringen erfolgte in
den kommenden Jahren die Umbenennung der eingesetzten Triebwagen nach Orten und Regionen, welche entlang der Strecke zwischen Erfurt und Kassel lagen. Am 18. Januar 2003
wurde dem Landkreis Eichsfeld sowie den beiden Städten Leinefelde und Heilbad Heiligenstadt diese Ehre zuteil. Begleitet von der Eichsfelder Musikschule nahmen Heidemarie Mähler (Geschäftsführerin der Erfurter Industriebahn), der Eichsfelder Landrat Dr. Werner Henning sowie die beiden Bürgermeister Gerd Reinhardt (Leinefelde) und Bernd Beck (Heilbad Heiligenstadt) die feierliche Zugtaufe vor. Der Verbrennungstriebwagen (VT) Nummer 003 erhielt den Namen „Leinefelde“, der VT 004 den Namen „Heilbad Heiligenstadt“ und der VT 007 den Namen „Landkreis Eichsfeld“.
Das Ereignis am 18. Januar 2003 hatte historische Dimensionen. Nach der Entdeckung des
Asteroiden 442 „Eichsfeldia“ am 15. Februar 1899 durch Max Wolf und Arnold Schwassmann, der Inbetriebnahme des Motorschiffes „Eichsfeld“ am 11./12. Mai 1967 durch den VEB Deutsche Seereederei Rostock sowie der Errichtung des Apartmenthauses „Eichsfeldia“ im Stadtzentrum des Ostseebades Kühlungsborn im Jahre 1997 war die dreifache Zugtaufe nun ein weiterer Ritterschlag für die Region.
Die so genannte „Eichsfeld-Flotte“ der Erfurter Bahn erfreute sich wie alle Triebwagen, welche zwischen Erfurt und Kassel eingesetzt wurden, von Anfang an großer Beliebtheit. Das lag zum Einen an der neuen Technik und zum Anderen an den damaligen Zuständen in den
Personenzügen der Deutschen Bahn AG bzw. deren Tochterunternehmen DB Regio Südost
(seit 1. Januar 2002).
Der Regio-Shuttle RS1 war ein moderner Leichtverbrennungstriebwagen in Niederflurtechnik, den man speziell für den Regionalverkehr auf Haupt- und Nebenstrecken konzipiert hatte. Er besaß hohe Beschleunigungswerte (Höchstgeschwindigkeit: 120 km/h), komfortabel ausgestattete Fahrgasträume sowie eine große WC-Kabine. Darüber hinaus war der Regio-Shuttle RS1 barrierefrei zugänglich und bot viel Platz für die Mitnahme von Fahrrädern. Er bildete damit einen starken Kontrast zu den Personenzügen, welche die DB Regio Südost zur selben Zeit
auf der Fernverkehrsstrecke zwischen Halle und Kassel eingesetzt hatte.
Die sogenannten Halberstädter Mitteleinstiegswagen waren nicht barrierefrei, sondern das Ein- und Aussteigen erfolgte über Trittstufen. Für gehbehinderte oder betagte Personen bedeutete das eine große Herausforderung. Um die vergleichsweise schmalen Außentüren zu öffnen, brauchte man beide Hände sowie Muskelkraft. Der Türöffner musste nämlich gleichzeitig gedreht und nach außen gedrückt werden. Manchmal saßen die Türen jedoch so fest, dass man sich mit der Schulter dagegen stemmen musste.
Viele Reisende verzichteten deshalb darauf, als erste aussteigen zu wollen. Der Satz, „Würden Sie bitte mal die Tür öffnen?“, gehörte mindestens genau so zum Bahnalltag wie „Die Fahrkarten bitte!“ oder „Vorsicht an der Bahnsteigkante!“ Der Lärmpegel in den Mitteleinstiegswagen war hoch. Beim Abfahren des Zuges erzeugte das automatische Schließen der Türen stets einen lauten Knall und was die Fahrradmitnahme angeht, so konnte diese nur in einem gesonderten Abteil erfolgen. Da auch der Komfort der Fahrgasträume und der vergleichsweise engen WC-Kabinen nicht mehr dem Zeitgeist entsprachen, war die Unzufriedenheit der Reisenden und des Zugpersonals entsprechend hoch. Umso mehr wurde deshalb der neue Komfort geschätzt, den die EIB bzw. EB ihren Kunden bot.
Genau 10 Jahre war die so genannte „Eichsfeld-Flotte“ zwischen Thüringen und Hessen
unterwegs; sie schien aus dem Alltag der Zugreisenden nicht mehr wegzudenken. Nach einer
Neuausschreibung musste die Erfurter Bahn GmbH zum Fahrplanwechsel im Dezember 2013
den Verkehrsvertrag für die Strecke Erfurt-Kassel jedoch wieder an die Deutsche Bahn AG
abgeben. Die getauften Fahrzeuge wurden daraufhin entklebt, frisch lackiert und anderweitig
im Netz der Erfurter Bahn eingesetzt. Dort begegnen sie uns noch heute, aber auch auf Fotos
im Internet und diversen Eisenbahnpublikationen.
Man erkennt sie an ihren amtlichen Namen VT 003, VT 004 und VT 007, welche unterhalb der Windschutzscheibe angebracht sind. Im Jahre 2010 schaffte es der VT 003 „Leinefelde“ sogar in den mehrbändigen Sammelordner „Das große Archiv der Eisenbahnstrecken in Deutschland“. Auf dem Blatt Nr. 604/6296 für die Strecke Gotha-Leinefelde ist er auf der ersten Seite zu sehen. Somit bleibt die ehemalige „Eichsfeld-Flotte“ der Erfurter Bahn auch noch lange nach ihrem unfreiwilligen „Untergang“ der Nachwelt erhalten.
Michael Kruppe