Leinefelde nimmt Abschied: Die „PGH Moderne Linie“

Die Tage sind gezählt: Der Gebäudekomplex des einstigen Versorgungszentrums aus DDR-Zeit am Zentralen Platz mit der HO-Kaufhalle „Blaues Wunder“, dem „Haus der Dienste“, dem Friseur- und Kosmetiksalon der PGH „Moderne Linie“ sowie der Stadtbibliothek soll abgerissen werden. Für die Einen verschwindet damit ein jahrelanger Schandfleck, für die Anderen ein halbes Jahrhundert Wirtschaftsgeschichte des Eichsfelds. Dr. Michael Kruppe hat die Geschichte der PGH recherchiert:

1971 in Leinefelde: In der Hertz-Straße wird in zwei Wohnungen ein Friseursalon eröffnet. In der Ausgabe der Lokalredaktion „Das Volk“ vom 14. Oktober 1971 war zu lesen:

Zeitungsausschnitt von 1971. Sammlung: Michael Kruppe


Am 3. Januar 1974 wurde der Friseur- und Kosmetiksalon der PGH „Haarkosmetik“ Leinefelde (später PGH „Moderne Linie“) als drittes Teilstück des neuen Versorgungszentrums am Zentralen Platz feierlich eröffnet. Damit endete für viele Bürger der Stadt eine lange Leidenszeit. Durch das rasante Bevölkerungswachstum von Leinefelde war eine Unterversorgung im Waren- und Dienstleistungssektor entstanden, die das Friseurhandwerk besonders zu spüren bekam.

Eigentlich sollte das neue Versorgungszentrum diese Lücke erst 1974 schließen, doch bereits bei dessen Baubeginn 1971 war klar, dass es bis zur Eröffnung des Friseur- und Kosmetiksalons einer Übergangslösung bedurfte. Aus diesem Grund mietete die PGH „Haarkosmetik“ Heiligenstadt zum 1. Oktober 1971 in der Leinefelder Karl-Liebknecht-Straße 3 (heute Hertz-Straße) im Erdgeschoss eine Zwei-Zimmer-Wohnung sowie eine Drei-Zimmer-Wohnung an; diese wurden als Herren- und Damensalon zurechtgemacht und sollten auf dem angespannten Friseurmarkt für Entlastung sorgen.

Objektleiter der neu gegründeten PGH „Haarkosmetik“ Leinefelde war Bernhard Rinke, ein mehrfach preisgekrönter Friseurmeister. Rainer Hökelmann führte den Herrensalon. Er hatte 1971 beim Preisfrisieren in Erfurt den 1. Platz belegt. Im Damensalon arbeiteten fünf Friseurinnen, von denen Maria Brotmann, Bernhilde Sauerborn und Elisabeth Monecke
namentlich bekannt sind. Geöffnet war montags von 8.00 Uhr bis 16.00 Uhr sowie dienstags
bis freitags von 8.00 Uhr bis 20.00 Uhr. Bereits an den langen Öffnungszeiten erkennt man,
wie groß der Kundenandrang gewesen sein muss.

Zeitungsausschnitte vom Januar 1974:


Mit dem Umzug der PGH „Haarkosmetik“ Leinefelde von der Karl-Liebknecht-Straße 3 an den Zentralen Platz wurde die Mitarbeiterzahl auf 24 erhöht. Diese verteilte sich wie folgt: Zwei Männern und zwei Frauen arbeiteten im Herrensalon, 14 Frauen und ein Mann im Damensalon sowie zwei Frauen im Kosmetiksalon. Dazu gab es noch den Objektleiter sowie zwei Verkäuferinnen. Auf vier Männer kamen demnach 20 Frauen. Leiter der PGH „Haarkosmetik“ Leinefelde blieb weiterhin Bernhard Rinke. Rainer Hökelmann und Günter Wallenstein führten den Herrensalon; Karl-Josef Bürgel und Carola Heinemann waren für den Damensalon verantwortlich; Monika Wand und Rita Noerthen bedienten die Kunden im Kosmetiksalon. Für viele Leinefelder sind diese Namen auch heute noch ein Begriff.

Der neue Friseur- und Kosmetiksalon war nicht nur einer der schönsten und modernsten im Bezirk Erfurt, sondern mit Baukosten von 2,2 Mio. Mark auch einer der teuersten. Damit sich diese Investition lohnte, gab es im Herrensalon fünf Arbeitsplätze, im Damensalon 11 Arbeitsplätze und im Kosmetiksalon sechs Kabinen für Damen und Herren. Pro Tag wurden durchschnittlich 60 Männer und 90 Frauen frisiert. Geöffnet hatte das Geschäft montags von 7.00 Uhr bis 16.00 Uhr, dienstags bis freitags von 7.00 Uhr bis 19.30 Uhr und samstags von 7.00 Uhr bis 12.00 Uhr. Der Kosmetiksalon war nur nach Terminvereinbarung geöffnet.

1974 – der Kosmetikbereich. Zeitungsausschnitt „Das Volk“..

1974 wurde die PGH „Haarkosmetik“ Leinefelde in PGH „Moderne Linie“ umbenannt. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Ab 1979 gab es in Niederorschel, Wingerode und Beuren drei Außenstellen. Nach dem altersmäßigen Ausscheiden von Bernhard Rinke Anfang der 1980er Jahre wurde Marianne Hebestreit die neue Leiterin. Infolge des Bevölkerungswachstums der Stadt Leinefelde stieg die Mitarbeiterzahl auf fast 40 Beschäftigte an. Im Januar 1984 feierte die PGH „Moderne Linie“ in der HO-Gaststätte „Haus Eichsfeld“ ihr 10jähriges Bestehen. Bernhard Rinke war inzwischen zum Ehrenvorsitzenden der PGH ernannt geworden und stolz auf das, was er und seine Kollegen geschaffen hatten. Lobend erwähnt wurde bei der Feier neben Günter Wallenstein, Karl-Josef Bürgel und Carola Heinemann auch Rainer Hökelmann, der sich große Verdienste als Lehrausbilder im Herrenfach erworben hatte. Sein Sohn Marco war ebenfalls Friseur.

Der Fall der Mauer am 9. November 1989 leitete das Ende der PGH „Moderne Linie“ ein. Durch das Treuhandgesetz vom 1. März 1990 ging die PGH in den Besitz der neuen Treuhandanstalt über. Die Immobilie am Zentralen Platz war jedoch Eigentum der Stadt Leinefelde. Entgegen der Vorgabe des Treuhand-Chefs Detlev Karsten Rohwedder wurde die PGH „Moderne Linie“ privatisiert. Aus ihr ging im Sommer 1990 die „Friseur-GmbH“ hervor mit Marianne Hebestreit als Geschäftsführerin. Durch die schlechte Auftrags- und Wirtschaftslage musste ein Drittel der Belegschaft entlassen werden. Die Mitarbeiterzahl ging dadurch auf 25 zurück.

Im März 1993 wurde bekannt, dass die „Friseur-GmbH“ zahlungsunfähig sei und zum 30. Juni 1993 ihren Betrieb einstellt. Wieder kam es zu Entlassungen. Die Außenstelle in Niederorschel wurde geschlossen und die beiden Geschäfte in Wingerode und Beuren sollten von ehemaligen Mitarbeitern der PGH übernommen werden. Da das Gebäude am Zentralen Platz der Stadt Leinefelde gehörte, bot sich für einen Teil der Belegschaft nun die Chance, hier eine neue Existenz aufzubauen. Bei den Verhandlungen mit der Stadtverwaltung erhielten Marco Hökelmann und Karl-Josef Bürgel den Zuschlag für ihre geplante Unternehmung.

Im unteren Bereich des einstigen Bibliotheksgebäudes waren die Friseurgeschäfte. Fotos: M. Kruppe

Aus dem riesigen Friseur- und Kosmetiksalon wurden durch Umbaumaßnahmen zwei räumlich getrennte Friseurgeschäfte geschaffen. Der neu entstandene „Friseursalon Marco“ und „Friseur Ihrer Familie“ von Karl-Josef Bürgel konnten zudem einen Teil der 25 Mitarbeiter der „Friseur GmbH“ übernehmen. Nach dem frühen Tod von Karl-Josef Bürgel führte seine Tochter Maria den Handwerksbetrieb weiter und eröffnete eine gleichnamige Außenstelle in Wingerode.

Obwohl das Gebäude der Stadt Leinefelde gehörte, blieb es von den aufwendigen Sanierungsmaßnahmen im Zuge der Expo 2000 unberührt. Die Stammkundschaft störte die bröckelnde Außenfassade jedoch wenig. 2017 ersann die Stadt Leinefelde-Worbis einen kühnen Plan, wonach der gesamte Gebäudekomplex vom „Blauen Wunder“ bis zur Stadtbibliothek abgerissen werden sollte. An diese Stelle wollte man ein Medizinisches Versorgungszentrum errichten lassen; doch es passierte nichts.

Noch bis 2022 existierten beide Friseurgeschäfte am Zentralen Platz. Der Salon von Marco Hökelmann wurde zum 31. März 2022 geschlossen und am 5. April 2022 in der Käthe-Kollwitz Straße 16 wieder eröffnet. Maria Bürgel gab ihr Friseurgeschäft in Leinefelde dagegen auf, so dass sich der „Friseur Ihrer Familie“ seit dem 1. August 2022 nur noch in Wingerode befindet.

Wenn der Gebäudekomplex am Zentralen Platz abgerissen wird, dann verschwindet damit nicht nur ein jahrelanger Schandfleck, sondern auch ein halbes Jahrhundert Handwerksgeschichte des Eichsfelds.
Dr. Michael Kruppe