Das einstige Einkaufszentrum Edeka am Zentralen Platz – besser bekannt als „Blaues Wunder“ – steht vor dem Abriss. Foto: Dr. M. Kruppe

Schon bald soll der Gebäudekomplex des einstigen Versorgungszentrums am Zentralen Platz
mit der HO-Kaufhalle „Blaues Wunder“, dem „Haus der Dienste“, dem Friseur- und
Kosmetiksalon der PGH „Moderne Linie“ sowie der Stadtbibliothek abgerissen werden. Für die Einen verschwindet damit ein jahrelanger Schandfleck, für die Anderen ein halbes Jahrhundert
Wirtschaftsgeschichte des Eichsfelds. Wie es mit dem „Blauen Wunder“ in Leinefelde nach der Wende weiterging, lesen Sie hier in einem ausführlichen Beitrag von Dr. Michael Kruppe:

1979 – die Aufnahme zeigt die Kaufhalle (li) und Stadt L (re.) mit Parkplatz. (Aus der Sammlung von Dr. M. Kruppe)


Ein Blick vom Schaufenster in die Kaufhalle „Blaues Wunder“ in ihren besten Jahren -1976. (Aus der Sammlung von Dr. Michael Kruppe).

Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 vollzogen sich im Eichsfeld gewaltige
Umbrüche im Einzelhandel. Durch das Treuhandgesetz vom 1. März 1990 gingen der HO Kreisbetrieb Worbis und seine Immobilien in den Besitz der neuen Treuhandanstalt über.
Innerhalb des Versorgungszentrums betraf dies die Kaufhalle „Blaues Wunder“ und die
gegenüber liegende Gaststätte „Stadt L.“ mit dem „Café L.“. Dem HO-Kreisbetrieb Worbis
gelang es, dass der westdeutsche Edeka-Konzern noch in der ersten Märzwoche des Jahres
1990 mit der Belieferung der Leinefelder Kaufhallen beginnen konnte. Für die Lebensmittel
aus dem Westen bildeten sich nun lange Schlangen.

Zeitungsausschnitt vom 3. August 1990 „Das Volk“ Kreisteil Worbis.


Im Mai 1990 wurde der HO-Kreisbetrieb Worbis in „Kaufpunkt Eichsfeld GmbH“ umbenannt.
In den kommenden zwei Monaten verhandelte sie um die offizielle Ansiedlung von Edeka
und anderer westdeutscher Lebensmittelkonzerne im Kreis Worbis. Im Juli 1990 verkündete
die Presse den erfolgreichen Abschluss der Gespräche. „Mitte August werden in den drei
Eichsfeldstädten Worbis, Leinefelde und Dingelstädt die ersten Läden mit Billig- und
Sonderangeboten für Lebensmittel eröffnet. Wie aus dem Landratsamt zu erfahren war,
konnte man hierfür als Partner die renommierten bundesdeutschen Firmen Aldi und Edeka
gewinnen. Ebenfalls geplant ist die Errichtung von Supermärkten in diesen drei Städten, die
sofort nach Klärung der Standortfrage in Angriff genommen werden soll.“


In der Zwischenzeit hatte die Kaufpunkt Eichsfeld GmbH die Kaufhalle „Blaues Wunder“ in
„Aktiv Markt“ umbenannt. Die Leinefelder Bevölkerung konnte sich damit jedoch nie
anfreunden. Für sie blieb der Lebensmittelmarkt auch weiterhin das „Blaue Wunder“. Obwohl
im Juli 1990 bereits feststand, dass der Edeka-Konzern die Kaufhalle ab August übernimmt,
wurde die gegenüber liegende Gaststätte „Stadt L.“ noch im selben Monat auf Betreiben der
Treuhand geschlossen und ein SB-Markt der Kaufpunkt Eichsfeld GmbH darin eingerichtet.

Zu seiner Eröffnung im August 1990 kamen hunderte Besucher. Der SB-Markt der Kaufpunkt
Eichsfeld GmbH existierte jedoch nur ein halbes Jahr. 1991 vermietete die Treuhand das
Objekt an die TiP-Discount Handels GmbH und Co. KG. Der TiP-Markt sollte dem Edeka
Aktiv Markt in den nächsten Jahren Konkurrenz machen.

Was die Kaufpunkt Eichsfeld GmbH angeht, so geriet diese ab Januar 1991 in finanzielle
Schieflage. Im März 1991 kam es zu Massenentlassungen; Ende Juni 1991 wurde die Firma
mit Sitz in Leinefelde geschlossen und von der Treuhand abgewickelt. Diese übernahm nun
selbst die Regie über den Einzelhandel im Kreis Worbis.

Frau Schwarzmann, die neue Leiterin des Edeka Aktiv Marktes am Zentralen Platz, hatte
wenig Glück mit ihrer Unternehmung. Das lag zum Einen an der Ansiedlung weiterer
Lebensmittelmärkte in Leinefelde und zum Anderen an der Verlagerung der Kundenströme
nach Südniedersachsen. Im Juli 1992 wurde der V-Markt in der Heiligenstädter Straße
eröffnet, im September 1992 der Okay-Markt in der Breitenhölzer Straße, im September 1994
der Aldi in der Beethovenstraße und im Oktober 1995 der 1A-Markt (ab 1996 Rewe-Center)
in der Herderstraße. Obwohl die Nahversorgung in der Stadt nun sehr breit aufgestellt war,
zogen es viele Leinefelder auch weiterhin vor, ihre Großeinkäufe am Wochenende in
Duderstadt oder Göttingen zu tätigen. Das Angebot an Waren und Dienstleistungen wurde
dort als besser empfunden.

Im Sommer 1996 wanderte Frau Schwarzmann nach Ägypten aus und ließ das „Blaue
Wunder“ führungslos zurück. Der Leinefelder Jens Schumann übernahm daraufhin zum 1.
Juli 1996 die Leitung des Edeka Aktiv Markts als selbständiger Kaufmann und führte diesen
20 Jahre lang. Dass die Immobilie nicht der Stadt gehörte, wurde ihr bereits drei Jahre später
zum Verhängnis. Sie blieb wie der Gebäudekomplex „Stadt L.“ von den aufwendigen
Sanierungsmaßnahmen anlässlich der Expo 2000 unberührt. Das Objekt verkam dadurch noch
weiter und bildete einen starken Kontrast zu der modernen Architektur um die
Obereichsfeldhalle.

Als im September 2002 bekannt wurde, dass sich der Kaufland-Konzern in der Leinefelder
Innenstadt gegenüber vom Bahnhof ansiedeln wolle, löste dies ein mittleres Erdbeben aus.
Der Edeka Aktiv Markt am Zentralen Platz, der Edeka Neukauf (früher „31. Jahrestag“) in der
Händelstraße, der Rewe-Center in der Herderstraße und viele Einzelhändler der Bahnhofstraße sahen sich nun in ihrer Existenz bedroht. Sie versuchten daher alles, um das Vorhaben zu verhindern. Auch die Stadtverwaltung unternahm buchstäblich alles, jedoch für Kaufland. Sie wollte das Projekt um jeden Preis realisieren. Die Leinefelder wurden so Zeuge
eines zweijährigen Handelskrieges, der die ganze Stadt polarisierte.

In dem Streit zwischen Befürwortern und Gegnern der Kaufland-Ansiedlung setzte sich
schließlich die Handelskette aus Neckarsulm durch; aber auch nach der Eröffnung des
Marktes im August 2004 sollten die Proteste nicht verstummen. Immerhin traten die
damaligen Prophezeiungen, der Edeka Aktiv Markt werde wegen Kaufland sehr schnell zu
Grunde gehen, nicht ein. Auch die Ansiedlung von Aldi, Lidl und Penny in unmittelbarer
Nähe des „Blauen Wunders“ bedeuteten noch nicht dessen Aus. Erst im Juni 2016 wurde der
Edeka Aktiv Markt für immer geschlossen.


2017 erwarb die Stadt Leinefelde-Worbis die Immobilie und hatte Großes damit vor. Sie
plante den Neubau eines Medizinischen Versorgungszentrums mit verschiedenen Fachärzten,
eines Dialysezentrums und einer Tagesklinik. Dazu sollte der gesamte Gebäudekomplex
abgerissen werden. Durch den Rückzug möglicher Investoren und der dramatischen
Haushaltslage der Stadt platzte jedoch der Traum von einer neuen Poliklinik in Leinefelde.

Die einstige Warenannahme vom Blauen Wunder heute. Foto: Dr. M. Kruppe

Das „Blaue Wunder“ blieb stehen und bildete zusammen mit dem „Stadt L.“ eine
gespenstische Kulisse. Immerhin hat der jetzige Anblick bald ein Ende. Damit verschwindet
für die Einen ein jahrelanger Schandfleck und für die Anderen ein halbes Jahrhundert
Wirtschaftsgeschichte des Eichsfelds.
Dr. Michael Kruppe